Gleich einer Symphonie in Grün
neu vertonte Lyrik von Selma Merbaum
Aviv Weinberg & Ensemble Z'lil schel Bet Haskala unter Leitung von Albrecht Gündel-vom Hofe
Zehn ausgewählte Gedichte aus der Sammlung "Blütenlese" von Selma Merbaum, komponiert und arrangiert für Sopran und kleines Jazz-Ensemble in der Besetzung Saxophon (Sopran & Alt), Violoncello, (Grand) Piano und Kontrabass.
- Abend (II)
- Welkes Blatt
- Vormittag
- Sehnsuchtlied
- Schlaflied für mich
- Lied
- Sonne im August
- Schlaflied für dich
- Träume
- Sonett
Aviv Weinberg (Gesang), Uwe Steinmetz (Sopran- und Altsaxophon), Lauren Steinmetz (Violoncello), Albrecht Gündel-vom Hofe (Flügel, Bechstein D 282), Marcel Krömker (Kontrabass)
Alle Kompositionen und Arrangements: Albrecht Gündel-vom Hofe, außer (8) Brigitte vom Hofe & AGvH, (10) Aviv Weinberg & AGvH
Aufnahme, Mischung & Mastering: Rainer Ahrens, Tonstudio Ölberg-Kirche Berlin 2023
Grafik: Marion Ivory Meyer
Cover: Brigitte Konrad, Blütentapete (Detail); Selma Merbaum (05.02.1924-16.12.1942). Ausschnitt aus Originalfoto mit Widmung, Czernowitz, Sommer 1940. Mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Rose-Ausländer-Stiftung, Köln.
TT 46:31 Min., Bestellnummer: pT-1187, EAN 4250523311879, © primTON 2024
Selma und ihre Lyrik
Erinnern heißt, die Flamme am Brennen zu halten, und nicht, die Asche zu verwahren.
Mit diesem Zitat eröffnet Marion Tauschwitz die im Dezember 2023 erschienene Neuauflage ihrer Biografie über Selma Merbaum samt der von ihr neu transkribierten Gedichte. Darin beschreibt sie die Lebensgeschichte und menschlichen Erfahrungen des jüdischen Mädchens Selma, das am 5. Februar 1924 in Czernowitz geboren wurde und am 16. Dezember 1942 im deutschen Zwangsarbeitslager Michailowka in Transnistrien zu Tode kam. Hinterlassen hat Selma der Welt trotz ihres jungen Alters ein emotional tief berührendes lyrisches Erbe von 57 Gedichten, handschriftlich verfasst und eigenhändig zu einem Gedichtband zusammengebunden, welcher auf abenteuerliche Weise die Shoah überlebte und dank der gelungenen Flucht zweier Freundinnen Selmas seinen Weg nach Palästina fand.
Nach ersten Veröffentlichungen in Israel – noch als Privatdruck – gelangte Selmas Lyrik schließlich nach Deutschland, nachdem der Autor Jürgen Serke das Œuvre einer breiten Leserschaft erstmalig zugänglich gemacht hatte.
Über dieses Projekt
Merkmale
Die Besonderheit des hier vorliegenden CD-Projekts besteht nicht nur in der ungewöhnlichen Besetzung, welche Cello, Saxophon, Klavier und Bass mit einer Sopranstimme (Gesang) kombiniert. Vielmehr ist es die musikalische Stilwahl, welche zwischen klassischen und Jazzelementen mit eigens für das Ensemble geschriebenen Arrangements einerseits und stark improvisatorischen Anteilen andererseits changiert. Extrem schwierig und herausfordernd bei der Vertonung der ausgewählten Gedichte war es, tragende Melodien und harmonisch-rhythmische Strukturen zu finden, welche sich nicht in den Vordergrund drängen. Stattdessen sollten sie „dienend“ und dem Sprachfluss folgend einen adäquaten Klangraum für die lyrischen Worte und die mit ihnen assoziierten Gefühle und Bilder eröffnen. Dazu gehörte auch meine Entscheidung, mich innerhalb dieses Projekts erstmalig auf eine rein begleitende Rolle am Piano zu beschränken und allein den Melodieinstrumenten des Ensembles die solistischen Freiräume zu belassen. Desweiteren haben wir in Anlehnung an Klassikaufnahmen die Aufnahmesession so gewählt, dass Sängerin und Ensemble gemeinsam in einem Raum aufgenommen wurden ohne zusätzliche Verstärkungen, also wie bei einem Klassik-Livekonzert. Die damit verbundene Gefahr, nachträglich Spielfehler nicht mehr korrigieren zu können, haben wir dabei bewusst in Kauf genommen zugunsten einer „dichteren“ Aufnahmeatmosphäre, geprägt vom gemeinsamen Spielen und einer damit verbundenen ungebremsten Spielfreude. Dies, so fühlten wir, wäre ganz im Sinne von Selma.
Drei wichtige Wegweiser für die Vertonung
Bei der Auswahl der Gedichte und ihrer musikalischen Umsetzung in Liedform waren mir folgende drei Aspekte wichtige Wegweiser: Selma war voll Lebensfreude und Lebenswillen – trotz aller widrigen Umstände um sie herum, unter denen sie litt. Marion Tauschwitz schreibt zu einem in ihrer Biografie bisher unveröffentlichten Winterfoto aus dem Jahr 1941 kommentierend: „Das Bild dokumentiert einmal mehr Aussagen von Zeitzeugen, die sich an Selmas ansteckende Lebensfreude erinnerten, wie sie ihre Freunde aus der zionistischen Verbindung Hashomer Hazair in seelendunklen Momenten aus Mutlosigkeit und Lethargie herauszureißen vermochte, bis sie alle singend und barfuß durch den tiefen Schnee stapften.“ [Tauschwitz, Marion: Selma Merbaum: Biografie und Gedichte. S. 117] Auch ihrer Freude an Tanz und Bewegung gibt Selma bei aller Melancholie, welche ihre Gedichte immer wieder durchzieht, in ihrer Lyrik Raum, wie z. B. in Sonne im August: „Gleich einer Symphonie in Grün | durchpulst von Licht und Duft und Glanz, | ziehn Wiesen sich und Hügel hin | erfüllt von buntem Blumentanz“. Diese Lebensfreude spiegelt sich in Rhythmus, Melodik und Harmonik mehrerer Vertonungen wider.
Gleichsam verbunden mit ihrer Lebensfreude offenbaren Selmas Gedichte zweitens eine wesentliche Naturliebe und -verbundenheit, die auch Marion Tauschwitz beschreibt: „Natur wird Selma zur Metapher ihrer Sehnsucht. Wird Musik, die den Ton ihrer Gedichte liefert, aus deren Einzeltönen sie Klänge komponiert, die zum Konzert anschwellen. Die junge Selma verfügte über jedes Stimmungsrepertoire. Sie zog alle Register, stimmte jede Tonart an und variierte die Vortragsarten […] Selma stellte die Schöpfung in den Dienst ihrer Dichtung. Poesie war inneres Exil.“
Die beschriebene Vielfalt und Variationsbreite an Registern, Ton- und Vortragsarten in Selmas Lyrik findet sich in den Kompositionen durch die Wahl verschiedener Kompositionsformen, Genres und unterschiedlicher Tonarten wieder, welche zum Einsatz kommen.
Und da sind wir beim dritten Aspekt: Selmas leidenschaftlicher Beziehung zur Musik. Wieviel Musik steckt bereits in ihren Gedichten: sei es, dass sie diese direkt thematisiert, wie z. B. in Sehnsuchtslied oder Schlaflied für dich; sei es, dass der Bezug zur Musik strukturell in ihre Gedichte eingeht, wenn sie z.B. eine strophische Form für ihre Gedichte wählt, wie im Fall von Schlaflied für mich oder Träume. So erscheint es fast zwingend, nach möglichen Vertonungen ihrer Gedichte Ausschau zu halten. Aus den biografischen Recherchen von Marion Tauschwitz können wir entnehmen, dass Selma es förmlich genoss, wenn sie dem Klavierspiel ihrer beiden engen Freundinnen lauschen konnte. Sie liebte zudem das Singen. Musik war offenbar untrennbar mit ihrer jungen Seele verbunden. Und es war schließlich die Musik, welche Selma auf ihrer letzten Reise am 16. Dezember 1942 in ihre Welt begleitete, wie Marion Tauschwitz beschreibt: „Seit dem Nachmittag war aus der Koje in der dritten Etage ihr zarter Gesang zu hören. Sie sang sich aus dem Leben. Sie entträumte sich der Wirklichkeit. Am Abend verstummte Selma. Für immer.“
Fazit
Selmas „Flamme“ am Brennen zu halten und nicht den Blick auf ihre Lyrik als eine Rückschau auf eine verloren gegangene jüdische Kultur – im Sinne einer „Asche“ – zu zelebrieren, das ist das tiefe Ansinnen dieses vorliegenden CD-Projekts. Selmas Gefühle und Träume als heranreifende junge Frau mit allen Zweifeln, aber auch glücklichen Momenten kommen uns zeitlos daher und vermitteln uns einen Kompass, der zutiefst ausgerichtet ist auf Menschlichkeit und einen tiefen Respekt gegenüber der Schöpfung. Somit ist diese CD letztendlich ein Geburtstagsgeschenk an Selma aus der Nachwelt, verbunden mit einer tiefen Verneigung vor ihr und einem tiefen Dank für die wunderbare, uns anrührende Lyrik, welche auf wundersame Weise entgegen aller Bestrebungen nationalsozialistischer Barbarei, das jüdische kulturelle Erbe auszurotten, wie ein Zeichen für uns die Schrecken dieses Terrors überstanden hat. So sagen wir:
Happy Birthday, liebe Selma. L’chaim!
AGvH