Komponistinnen im Exil
Kathrin von Kieseritzky (Saxophone und Bearbeitungen) & Luisa Sereina Splett (Piano)
Luisa Splett spielt auf einem C. Bechstein Flügel D 282.
Vítězslava Kaprálová (1915-1940):
Elegie (1939) für Violine und Klavier (Arr. für Sopransaxophon und Klavier)
Vítězslava Kaprálová (1915-1940):
Ritornell (1940) für Violoncello und Klavier, op. 25 (Arr. für Baritonsaxophon und Klavier)
Dora Pejačević (1885-1923):
Sonate für Violoncello und Klavier e-Moll, op. 35 (Arr. für Baritonsaxophon und Klavier)
(Allegro moderato - Scherzo. Allegro - Adagio sostenuto - Allegro comodo)
Ruth Schönthal (1924-2006):
Sonata Concertante für Viola oder Klarinette und Klavier (1976) (Arr. für Sopransaxophon und Klavier)
(Tempo rubato - Slow, calm and with great expression - Allegro moderato)
Ruth Schönthal (1924-2006):
The Bells of Sarajevo (1992-1997) für Klarinette und präpariertes Klavier (Arr. für Altsaxophon und Klavier)
Sofia Asgatowna Gubaidulina (geb. 1931):
Lied ohne Worte (1977) für Trompete und Klavier (Arr. für Altsaxophon und Klavier)
Aufnahme: Peter Weinsheimer im Herbst 2022 im Tonstudio Ölberg-Kirche Berlin
TT 66:23 Min., Bestellnummer: pT-1263, EAN 4250523312630, primTON 2023
WIE DIOGENES IM FASS - Tod oder Ausgang?
Komponistinnen im Exil
Vertreibung, Flucht, Unheil und Tod oder Quelle für neue Inspiration und Kraft - zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die Zuschreibungen an den Zustand des Exils. Schon im Altertum wurde die Verbannung als Bestrafungsmethode angewandt. Die Heimat verlassen, im Fremden, Unbekannten ankommen und sich neu verorten – ein Schicksal, das etwa auch Ovid ereilte, als er Rom verlassen und in die Stadt Tomis am Schwarzen Meer ziehen musste. Gerade für Künstler bringt das Exil Schwierigkeiten in mehrfacher Hinsicht: Es ist nicht nur die Lebensheimat, die ihnen abhanden kommt, auch die Schaffensheimat, der Kulturraum, in dem sie geprägt und groß geworden sind, die gesprochene Sprache, die musikalische, die bildnerische, die ästhetische müssen sie ein Stück weit hinter sich lassen. Und nicht zuletzt das Publikum, das sie verstanden und akzeptiert hat.
Doch bergen Verlassen und Neuankommen auch eine große Chance: Verlangen, Heimweh, Einsamkeit und Konflikte können den Schaffensprozess anschieben, weben den Stoff für künstlerische Werke. Die zunächst fremde Kultur kann anregen, zu neuen Ideen beflügeln, Erleben und Erkenntnisse erweitern und die Arbeit bereichern. Zugleich finden im besten Falle die eigenen künstlerischen Ansätze und mitgebrachten Strömungen Eingang in die Kultur des Gastgeberlandes.
Auf dieser CD wird das Schicksal komponierender Frauen in den Mittelpunkt gerückt. Sie spielen in den zahlreich existierenden Abhandlungen und Büchern über Künstler im Exil bislang eine eher untergeordnete Rolle. Dies nicht zuletzt, weil Komponistinnen, denen in der Vergangenheit ohnehin oft Vorurteile wegen ihrer künstlerischen Tätigkeit entgegengebracht wurden, im Exil nicht selten gezwungen waren, das Komponieren zugunsten der Familie und deren ökonomischer Erhaltung aufzugeben.
Wie wirkt sich die Wanderschaft zwischen verschiedenen musikalischen Welten auf der Suche nach der eigenen künstlerisch-musikalischen Identität aus? Welche Anregungen finden Eingang in den Kompositionsprozess, wie weit verschmelzen eigener und fremder Musikstil, und wann sind die Grenzen des Vermischens erreicht?
Doch nicht nur Komponistinnen, die ins äußere Exil gezwungen wurden, kommen auf dieser CD zu Gehör. Auch das Komponieren aus einer Art „innerem Exil“ heraus wird beleuchtet, einem Alleinsein aus Gründen der Herkunft, politischen oder religiösen Weltanschauung, einer Vereinsamung innerhalb von Herrschaftsstrukturen, die freies künstlerisches Äußern nicht zulassen, oder einem Gefühl der Fremdheit, des Lebens „wie Diogenes im Fass“, umgeben von Menschen, die eigentlich dieselbe (künstlerische?) Sprache sprechen – wenn das Komponieren zum Lebenselixier wird, gerade so, als ob das Weiterleben, das Existieren davon abhinge.
Vítězslava Kaprálová (1915-1940)
Vítězslava Kaprálová wurde in Brünn (Tschechien) geboren. Sie begann, angeregt durch ihren Vater Vaclav Kapral, der selber Komponist und Professor am Konservatorium für Musik in Brünn war, schon früh, eigene Musik zu komponieren. Von 1930 bis 1935 studierte sie Komposition bei Vilem Petrzelka und Dirigieren bei Zdenek Chalabala am Brünner Konservatorium. Nach ihrem Abschluss setzte sie ihre Ausbildung in Prag an der Meisterschule des Prager Konservatoriums bei Vítězslav Novak (Komposition) und Vaclav Talich (Dirigieren) fort. 1937 erhielt Kaprálová ein Stipendium für weiterführende Studien und ging nach Paris. Dort studierte sie an der Ecole Normale de Musique in der Dirigierklasse von Charles Munch. Daneben wurde sie Privatschülerin von Bohuslav Martinu. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei im März 1939 entschied sich Kaprálová, in Frankreich im Exil zu bleiben. Im April 1940 heiratete sie den Schriftsteller Jiri Mucha. Wegen der bevorstehenden Einnahme von Paris durch die deutsche Armee wurde Kaprálová nach Montpellier evakuiert, wo sie am 16. Juni 1940 im Alter von nur 25 Jahren vermutlich einer schweren Krankheit erlag.
Zu Kaprálovás bemerkenswertem kompositorischem Œuvre gehört unter anderem die von den politischen Vorgängen ihrer Zeit beeinflusste Militärsinfonietta (Vojenská symfonieta), für die sie den Smetana-Preis erhielt. Kaprálová war die erste Frau, die die Tschechische Philharmonie dirigierte, sie dirigierte außerdem das BBC Symphony Orchestra. Als Komponistin überzeugte sie mit einem unerschöpflichen Erfindungsreichtum. Sie begeisterte sich für die Klangwelt Strawinskys, suchte in ihren eigenen Werken immer wieder nach neuen und unerwarteten Wendungen und entwickelte trotz ihres jugendlichen Alters einen eigenständigen Kompositionsstil.
Das Ritornell entstammt dem Zyklus Deux ritournelles pour violoncelle et piano. Beide Stücke entstanden im Mai 1940 in Paris, sie sind die letzten Kompositionen, die Vítězslava Kaprálová vor ihrem Tod fertigstellte. Doch nur eines der beiden Stücke blieb erhalten. Der Pianist Hermann Grab nahm es auf seiner Flucht aus Frankreich in die USA mit. Ursprünglich sollte der Zyklus am 29. Mai 1940 in Paris von Karel Neumann am Violoncello und Hermann Grab am Klavier uraufgeführt werden. Das Konzert wurde jedoch wegen der sich ständig verschlechternden politischen Situation in Frankreich abgesagt. Karel Neumann führte das Werk noch im Jahr 1940 zum ersten Mal in London auf.
Dora Pejačević (1885-1923)
Dora Pejačević wurde in Budapest geboren. Sie entstammte einer slawonischen Adelsfamilie und wuchs auf dem Familienbesitz in Schloss Našice in Slawonien auf. Schon früh erhielt sie musikalische Anregungen, zunächst von ihrer Mutter, der ungarischen Baronin Lilla Vay de Vaya, die eine ausgebildete Sängerin und Pianistin war, später vom Organisten Károly Noszeda. Sie brachte sich das Geige- und Klavierspiel bei und begann schon als Kind zu komponieren. Nachdem die Familie im Jahr 1902 nach Zagreb umgesiedelt war, wurde Pejačević in den Zagreber Kreisen und schon bald darüber hinaus als Komponistin anerkannt. Ein rastloses Leben mit Studien- und Arbeitsaufenthalten zwischen Budapest, Wien, München, Dresden, Prag und Našice begann.
Dora Pejačević war die erste Frau in Kroatien, deren Orchesterwerke öffentlich aufgeführt wurden. Anfangs waren Publikum und Kritiker überrascht, wenn sie feststellten, dass sich hinter dem D. im Programmheft eine Frau verbarg. Ihre Musik ist vom Jugendstil geprägt und kann der Spätromantik, bereichert durch impressionistische Harmonik, zugeordnet werden. Immer wieder durchbricht sie in ihren Werken die vorherrschende traditionelle Musiksprache, auch folkloristische slawische und slawonische Anklänge finden sich in ihrer Melodik. Dora Pejačević gilt als eine Vorreiterin des Fin de siècle in Kroatien. Lange Zeit widmete sie ihr ungebundenes Leben ausschließlich der Musik und dem kompositorischen Schaffen. Karl Kraus, mit dem sie befreundet war, beschrieb sie in seinem Gedicht „Ski und Fiedel“ als „Dora, sie, die Lieder, sie, die Töne hat“. Erst 1921 heiratete Pejačević, am 5. März 1923 starb sie wenige Wochen nach der Geburt ihres ersten Kindes an einer Sepsis in einer Münchner Frauenklinik.
Ruth Schönthal (1924-2006)
Ruth Schönthal erhielt Anfang der 1930er Jahre als jüngste Studentin überhaupt Klavier- und Theorieunterricht am Stern-Konservatorium in Berlin. Wegen ihrer jüdischen Herkunft musste sie das Konservatorium im Jahr 1935 verlassen. Die Familie siedelte zunächst nach Stockholm über, wo Schönthal aufgrund ihrer außergewöhnlichen Begabung einen Studienplatz am Konservatorium der Königlichen Musikakademie erhielt. Im Alter von 14 Jahren veröffentlichte sie ihre erste komponierte Sonatine. 1941 emigrierte die Familie über Umwege nach Mexiko City, dort studierte Schönthal Komposition bei Manuel M. Ponce und Klavier bei Pablo Castellano. Durch die Begegnung mit Paul Hindemith, der ihr zu einem Stipendium verhalf, konnte sie ab 1946 an der Yale-University in New Haven studieren.
Ruth Schönthal verfolgte beim Komponieren konsequent ihren eigenen Weg, ließ sich von keinen modernen Strömungen, Systemen oder Zwängen vereinnahmen. Sie, die aufgrund ihrer Herkunft schon früh zu Brüchen in ihrem Leben gezwungen worden war, blieb im Komponieren frei. Die Erfahrungen, die sie durch die Flucht in verschiedenen Regionen der Welt machen musste, flossen in ihre Art des Komponierens ein. Sie verleugnete ihre klassisch-romantischen Wurzeln nicht, setzte Stilmittel der europäischen Musiktradition ebenso ein wie die der mexikanischen Volksmusik, der amerikanischen Moderne, der Aleatorik und der Minimal Music. In ihren Werken, mit denen sie stets eine Form der Kommunikation zu den Zuhörern suchte, bildete sie die Komplexität der menschlichen Gefühlswelt ab, ihre Melodien und Rhythmen sollten menschliche Gesten und Bewegungen spiegeln.
Sofia Asgatowna Gubaidulina (geb. 1931)
„Seien Sie Sie-selbst, haben Sie keine Angst, Sie-selbst zu sein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf ihrem eigenen falschen Weg weitergehen.“ Diese Worte gab Dmitri Schostakowitsch der in Tschistopol, Tatarstan, geborenen, in Moskau studierenden jungen Komponistin bei einem Treffen im Jahr 1959 mit auf den Weg, und er wurde, wie Sofia Gubaidulina selbst beschreibt, zum Motto ihres Lebens und Schaffens. Schostakowitsch bestärkte sie darin, sich in ihrer Art zu komponieren nicht von der im Jahr 1948 vom sowjetischen Komponistenverband beschlossenen Doktrin des sozialistischen Realismus bestimmen zu lassen. Ein steiniger Weg stand ihr damit bevor, der zu Repressalien, öffentlichen Angriffen durch den sowjetischen Komponistenverband, einem Verbot ihrer Werke in der Sowjetunion in den 1960er und 70er Jahren und Reiseverboten zu Aufführungen ihrer Stücke im westlichen Ausland führte. Dennoch blieb Gubaidulina im Komponieren nicht korrumpierbar und ihre internationale Karriere war nicht aufzuhalten. Namhafte Musiker wie Gidon Kremer führten ihre Werke in aller Welt auf.
Gubaidulina, die in diesem Jahr ihren 90. Geburtstag feiert, sucht in der Musik nach einer geistigen Welt, die jenseits des alltäglich Erlebten liegt. Sie lotet in ihren Stücken die klanglichen und technischen Spielmöglichkeiten von Musikinstrumenten aus unterschiedlichen Kulturen aus, etwa dem russischen Knopfakkordeon Bajan, dem japanischen Koto oder verschiedensten Schlaginstrumenten aus aller Welt. In der Erziehung zwar dem russischen Kulturkreis zuzuordnen sind die asiatischen Einflüsse in ihrer Musik aufgrund der tatarischen Herkunft unüberhörbar.
Die Komposition „Lied ohne Worte“ für Trompete und Klavier entstand 1977. Zwei Quellen liegen ihr zugrunde. Zum einen die „Lieder ohne Worte“ von Mendelssohn-Bartholdy, zum anderen der in Russland bis heute nicht veröffentlichte Roman „Lied ohne Worte“ von Sofja Andrejewna Tolstaja (1844-1919), die mit dem russischen Schriftsteller Lew Tolstoi verheiratet war. Der Roman entstand 1897–1900, nachdem der jüngste Sohn im Alter von sieben Jahren verstorben war. Er berührt den Gedanken, dass nach schweren Schicksalsschlägen die Musik es sein kann, die Rettung und Zuversicht bringt.
Seit 2020 sind Kathrin von Kieseritzky und Luisa Sereina Splett im KLUSA-Duo auf der Suche nach spannenden und ungewöhnlichen Konzertprogrammen. Dabei wollen sie in der Besetzung Saxophon und Klavier Neues, bislang wenig Gehörtes entdecken und Bewährtes auf frische und unkonventionelle Weise neu interpretieren.
Kathrin von Kieseritzky lebt als freiberufliche Musikerin in Berlin und spielt in verschiedenen kammermusikalischen Formationen. Konzertreisen führten sie u.a. nach Mexiko, Panama, Costa Rica und Trinidad & Tobago. Gründungsmitglied im ADUMÁ Saxophonquartett, mit dem sie mehrere Preise erspielte.
Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Aufführung von zeitgenössischer Musik und die freie Improvisation, was sich auch in zahlreichen Musik(Theater)-Projekten mit und für Kinder niederschlägt, u.a. als musikalische Leiterin beim Kinderclub der Deutschen Oper Berlin.
Der Weg der Winterthurer Pianistin Luisa Sereina Splett führte von Zürich über Santiago de Chile und St. Petersburg nach Berlin. Sie spricht sechs Sprachen und verbindet nationale Klavierschulen zu ihrem ganz persönlichen Stil.
Solistin, Kammermusikerin und Gastdozentin in der Schweiz, Europa, Russland, Nord- und Südamerika.
Im Vordergrund ihres künstlerischen Schaffens steht die Entdeckung von Ungespieltem, die Kombination von Altem mit Neuem. Luisa unterrichtet und ist freie Mitarbeiterin an der Jungen Staatsoper Berlin.