Franz Schubert: Späte Klavierwerke
Luisa Sereina Splett - Klavier (C. Bechstein D 282)
4 Impromptus Op. 90, D. 899:
- Nr. 1 c-Moll
- Nr. 2 Es-Dur
- Nr. 3 Ges-Dur
- Nr. 4 As-Dur
Klaviersonate Nr. 18 G-Dur Op. 78, D. 894
1. Molto moderato e cantabile - 2. Andante - 3. Menuetto (Allegro moderato) - 4. Allegretto
Aufnahme: Peter Weinsheimer am 21.05. und 18.08./18.08.2022 im Tonstudio Ölberg-Kirche Berlin
TT 72:17 Min., Bestellnummer: pT-1262, EAN 4250523312623, primTON 2022
Passend dazu gibt es die Einspielung: Franz Schubert: Letzte Klavierwerke, ebenfalls von Luisa Sereina Splett
Meine persönliche Beziehung zu Franz Schubert und seiner Musik ist sehr eng und innig. Ich habe beschlossen, diesen Booklet Text selber zu schreiben, als persönlicher Wegweiser für die Zuhörer*innen – Schubert begleitet mich schon so lange, seine Musik ist mit meinem Leben verknüpft. Mit jedem gespielten Stück verbinden sich auch zeitgleiche Ereignisse meines Lebens und die einmal gefühlten Emotionen verbinden sich mit dem Werk. Bei jeder Wiederaufnahme desselben können sich diese natürlich auch ein wenig ändern, aber viele der Assoziationen bleiben für immer da. Je älter und – so hoffe ich – reifer ich werde, desto mehr spielen auch analytische Merkmale eine Rolle. Je mehr ich Schubert spiele, desto mehr erschließen sich mir Zusammenhänge, werden Verbindungen geknüpft. Je mehr ich auch andere Musik (Lieder, Kammermusik für Streicher, …) höre und mich damit beschäftige, desto vielfältiger und komplexer werden diese Verbindungen. Manchmal kann ich es nicht beweisen, aber eine Stelle erinnert mich an ein anderes Werk - manchmal an Schubert, manchmal an Beethoven…
Es ist nicht ganz klar, ob der Zyklus der Impromptus Op. 90 D 899 (und auch der zweiten Gruppe Op. 142 D 935) nicht als große Sonate konzipiert war, besonders das erste Impromptu Op. 90 in c-Moll spricht dafür. Der Eingangston - eine Glocke, eine Warnung, einfach ein Ausrufezeichen? – verhallt, bevor es mit der Melodie losgeht. Mit dieser einen Melodie wird nun monothematisch im gesamten Stück gearbeitet, mäandernd, schweifend, man verliert sich in der durchgehenden Bewegung der Begleitung, man muss als Interpretin höllisch aufpassen, nicht die „falsche Ausfahrt“ zu nehmen! Dieses und auch das zweite Impromptu in Es-Dur spielte ich zum ersten Mal zwei Tage nach meinen mündlichen Matura-Prüfungen, auch das ist schon 20 Jahre her. Seither sind diese zwei Impromptus immer wieder in meinen Programmen zu finden.
Das Impromptu in Es-Dur ist eines der ganz seltenen Werke der Klavierliteratur überhaupt, die in Dur beginnen und in Moll enden. Die Struktur dieses Impromptus besteht aus einem lieblichen A-Teil - perlende ununterbrochene Triolen rechts und eine Begleitung links -, einem tänzerisch-dramatischen B-Teil in h-Moll, dann kehrt der A-Teil, komplett identisch mit dem Anfang, zurück und als Coda folgt dann nochmals eine Variante des B-Teils, der es schafft, von h-Moll nach es-Moll zu modulieren und dieses als Schluss-Statement bestätigt.
Und es kann nun eigentlich darauf nun kein anderes Stück folgen als das 3. Impromptu in Ges-Dur, der Paralleltonart von es-Moll.
Obwohl ich eigentlich dieses dritte Impromptu immer am meisten mochte, war es doch dasjenige, welches ich zuletzt in mein Repertoire aufnahm – es war der Respekt, es nicht so schön spielen zu können, wie ich es wollte und in mir hörte. Als sich dann 2013 im Zusammenhang mit einem musikdramaturgischen Abend über Stefan Zweig die Gelegenheit bot, traute ich mich. Sich im Ges-Dur zu verlieren, die Melodie zu zeichnen, ohne zu plärren – es ist und bleibt eine Gratwanderung.
Auf einer Konzertreise spielte mir ein Schüler in Asunción dieses Werk plötzlich in G-Dur vor – und meinem Erstaunen zeigte er mir einen Druck des Verlegers, der schon zu Schuberts Zeiten die sechs B’s der Tonart Ges-Dur zu herausfordernd für die Spielenden der Zeit empfand und kurzerhand nach G-Dur (nur ein Fis) transponierte. Dabei liegt doch gerade in dieser dunklen Originaltonart das Geheimnisvolle und schwer greifbar Melancholische dieses Impromptus.
Das vierte Impromptu in As-Dur war das erste größere Schubert-Werk, das ich in meinem Leben gespielt habe, mit 13 Jahren (also vor 25). Es war das erste Mal, dass ich mich in einer Vortragsübung (Schülervorspiel) ziemlich verspielte und einige Akkorde plötzlich nicht mehr kannte – sozusagen der Eintritt ins Bewusstsein, dass ich Fehler machen kann! Ich weiß, dass ich mich damals schon um die Vollständigkeit der perlenden Sechzehntel Kaskaden bemühte und mich im Mittelteil der cis-Moll Dramaturgie hingeben konnte. Schon damals haben mich Tonarten und ihre Bedeutung interessiert, denn Schubert wählt sie bewusst und keine Vorzeichen sind ihm zu viel. Bei Schubert finden wir dieses cis-Moll unter anderem beim zweiten Satz der Wandererfantasie D 760, damit auch beim zweiten Teil des Liedes „Der Wanderer“ D 489, ebenso in cis-Moll steht der zweite Satz des Streichquintetts D 956 und der zweite Satz der letzten Klaviersonate D 960.
Die Sonate G-Dur spielte ich mit dickem Bauch Anfang 2020 und Bauchbewohner Bastian genoss diese Musik ebenso wie ich.
Oft gilt die erste Bemerkung, wenn man sich über die Sonate in G-Dur D 894 unterhält, der Länge. Je nach Interpretation dauert die gesamte Sonate bis zu 45 Minuten. Für mich sind Schuberts Sonaten Reisen, bei denen gilt: Der Weg ist das Ziel. Man muss sich darauf einlassen, diese Reise zu gehen, die kleinen Abschnitte und Abwege auszukosten.
Die „große G-Dur Sonate“ entstand als dritte und letzte Sonate der mittleren Sonaten-Trias. Im Dezember 1826 spielte Franz Schubert sie zum ersten Mal im Hause seines Freundes Joseph von Spaun und sie erschien 1927 unter dem Titel "Fantasie, Andante, Menuetto und Allegretto" op. 78. Über diese Bezeichnung der „Fantasie“ wird in der musikwissenschaftlichen Welt viel diskutiert – ist denn der Kopfsatz nun ein Sonaten-Satz oder nicht? Als Interpretin beschäftigt mich diese formelle Frage nur am Rande – ich versuche, mich der Herausforderung zu stellen, eine Einheit zu finden in diesem ersten Satz- Molto moderato e cantabile schreibt Schubert. Ein rhythmisches Pochen, das man zunächst nur im inneren Ohr hört, ist bis zum Ende ein steter Begleiter. Immer muss ich beim ersten Akkord an den Anfang von Beethovens viertes Klavierkonzert denken – ein langer G-Dur Akkord, der die noch so grausame Welt in seiner Vollkommenheit einfach mit Schönheit beschenkt.
Im Andante höre ich den Liedkomponisten, die manchmal verzierte Melodie, die man sich so gut auch als gesungenen Text vorstellen kann. Die zwei Abgründe, laut, wild, die versöhnenden Stimmen, die zur nächsten Strophe führen. Und das Ende, das mich so deutlich an „das Wirtshaus“ aus der Winterreise erinnert.
Im Menuetto, ein Ländler in bester schubertscher Manier, erklingt ein Tanzrhythmus, aber ich stockte beim Versuch, auch wirklich die Füße zu bewegen. Und eine meiner Lieblingsstellen überhaupt, ist das Trio, der Mittelteil, der so unglaublich leise dahingehaucht werden muss, und in dem man winzige Glöckchen klingen hört.
Im letzten Satz Allegretto fühle ich mich stets wie ein Kind, das eine Matrioschka-Puppe öffnet, immer neue und kleinere Puppen sind in der großen versteckt, jede einzelne von ihnen perfekt gemalt und gezeichnet. Die Wege Schuberts sind klar strukturiert, allerdings oft von vielen Abzweigungen geprägt. Mir erscheint oft das Bildnis des Wanderers, der sich auf immer kleineren Wegen beinahe verirrt, bevor er immer wieder auf den Hauptweg zurückfindet.
Luisa Sereina Splett