misa sine nomine
Messe für zwei Chöre, Schlagzeuge, Orgel und Sprecher:
Erweiterter Ölbergchor, Karl-Heinz Barthelmeus (Sprecher), Reinhard Hoffmann (Orgel), Nicole Hartig, Martin Lonak, Thomas Rönnefarth, Jan Seeliger (Schlagzeug), Leitung: Ingo Schulz
Konzertmitschnitt vom 12.09.1998 in der Tabor-Kirche, Berlin-Kreuzberg, TT 56:23, Bestellnummer ma 7, GTIN (EAN) 4012831190436, VÖ 1998 musik-art Ingo Schulz
Inhalt:
I. Bereschit
II. Kyrie + Lied
III. Gloria + Chile
IV. Credo
V. Benedictus + Ich komme
VI. Dona nobis pacem + Babel
VII. Epilog
Die "misa sine nomine" wurde zwischen 1975 und 1977 komponiert. Das Werk trägt eine Widmung an den Pantomimen, Dichter, Theaterregisseur, Komponisten und Sänger Victor Jara.
Im September 1973 ereignete sich in Chile, in dem Land, in dem ich geboren wurde, ein Putsch, dessen Auswirkungen die Zerstörung des demokratischen Lebens des Landes und die Errichtung einer Militärdiktatur waren. Eines von tausenden von Opfern dieser "Neuen Ordnung" war Victor Jara.
Die "misa sine nomine" ist ein Werk für einen gemischten symphonischen Chor, einen kleinen gemischten Chor von zwanzig Solisten, die ihrerseits die Akteure des Dramas sind, vier Schlagzeuger, die verschiedene Schlaginstrumente spielen, Orgel und Sprecher.
Das Stück besteht aus sieben Teilen, und es werden fünf Fragmente aus der Liturgie der Messe benutzt: Kyrie, Gloria, Credo, Benedictus und Dona nobis pacem, die von dem symphonischen Chor in lateinischer Sprache gesungen werden. Demgegenüber werden "Chile", "Ich komme" und "Babel" von dem Solistenchor gesungen. Dieser spielt und begleitet sich selbst mit latein-amerikanischen Schlaginstrumenten.
Der Introitus "Am Anfang" - in hebräischer Sprache - ist komponiert für Sprecher, beide Chöre und Schlaginstrumente.
Das "Lied" ist für Orgel komponiert, begleitet vom Sprecher mit einem Text in deutscher Sprache. Es dient der Schaffung einer Atmosphäre, als harmonische Brücke zu den nachfolgenden Teilen.
Der Epilog, auf Deutsch gelesen, kehrt zu dem Anfangsgedanken mit beiden Chören, Sprecher und Schlagzeug (Glocken) zurück; er markiert den Höhepunkt des Werkes. Sowohl der Introitus als auch der Epilog benutzen Texte des Alten Testaments.
Die Absicht des Komponisten war es, zwei Realitäten zu kombinieren und kontrapunktieren: die spirituelle und religiöse Welt, gebaut durch die verschiedenen Teile der Messe, und die Konfrontation mit gesungenen weltlichen Texten, die von verschiedenen Autoren geschrieben wurden. Diese weltlichen Texte enthalten eine Vision der menschlichen Realität, die dem Menschen das Dilemma seiner Existenz zeigt.
Die "misa sine nomine" ist im Grunde ein Akt Musiktheater, wobei jede menschliche Entwicklung ihre künstlerische Rückwirkung in seiner schöpferischen Darstellung hat. Der Sprecher führt uns in die "Schöpfung", eine Welt von Andeutungen und Vermutungen, die in der Entwicklung des Werkes in eine grausame und zerstreute Realität zerfällt. Zugleich gibt uns der Sprecher die letzte Reflexion, in die das Werk gipfelt.
Die "misa sine nomine" ist kein resignatives Werk, aber ein alarmierender Aufruf - eine verängstigte Geste gegenüber der Ungerechtigkeit und dem Verbrechen.
Das Werk hat einen ritual-ähnlichen Charakter, wobei die Identifikation der Mitwirkenden mit dem Musiktheater- Ereignis sie so besessen macht, dass sie zu "Babel" kommen, in die Sprachlosigkeit und in Wahnsinn. Es gibt Beklemmung, aber es gibt Kampf, es gibt Protest und Ansprache.
Das Werk ist in zwei dramatisch-musikalische Dreiecke strukturiert.
Während der "misa sine nomine" gibt es keine Pause, die dramatische Entwicklung ist ein ständiges "Werden". Manchmal wird eine Episode durch eine andere überholt und so eine einmalige polyphone Dichte geschaffen.
Am Ende des Credos erklingt ein großer Akkord, an dem alle Mitwirkenden gleichzeitig beteiligt sind. Hier findet sich der Höhepunkt des ersten dramatisch-musikalischen Dreiecks, aber auch zugleich der Beginn des zweiten Dreiecks, dessen modulierende Brücke zum Benedictus führt. Dieses zweite dramatisch-musikalische Dreieck mündet in den Epilog - der Sprecher zitiert wie "Am Anfang" das Alte Testament, und leitet so den Gipfel des Gesamtwerkes ein.
Das Werk wurde am 29. Juni 1980 in Hamburg uraufgeführt.
Weitere Aufführungen fanden 1993 und 1994 in Berlin unter der Leitung von Ingo Schulz statt.
Zum 25. Jahrestag des Putsches in Chile - 1998 - wurde die "misa sine nomine" in Berlin erneut aufgeführt. Die vorliegende Aufnahme ist ein Mitschnitt dieses Konzertes.
Leon Schidlowsky, Übersetzung David Schidlowsky/ Ingo Schulz
Mitwirkende:
Ölberg-Chor
Karl-Heinz Berthelmeus (Sprecher)
Reinhard Hoffmann (Orgel)
Nicole Hartig (Schlagzeug)
Sebastian Trimolt (Schlagzeug)
Thomas Rönnefarth (Schlagzeug)
Jan Seeliger (Schlagzeug)
Leitung: Ingo Schulz
Pressestimmen:
1. Forum Kirchenmusik 3/1999
Wer sich für Gegenwartsmusik interessiert, die etwas zu sagen hat, dem sei die jüngst unter dem Label "musik art" erschienene CD empfohlen. Sie enthält ein einziges Werk, es dauert knapp eine Stunde, erreicht also die Dimensionen eines konzentrierten Oratoriums. Der Titel: "misa sine nomine" - Messe ohne Namen. Die Stücke der alten lateinischen Messe, die bis heute das Gerüst der christlichen Gottesdienste abgeben, bilden in ihren allgemeinen, nicht dogmatisch gebundenen Passagen als Texte, als Ideen, als "figure humaine" den fernen, aber stets gegenwärtigen Hintergrund. Ihre Worte sind manchmal deutlich zu verstehen, manchmal ziehen sie sich in die Ebene von Laut und Klang zurück. Sie werden kontrapunktiert durch Gedichte aus dem 20. Jahrhundert, durch ausdrucks- und bildstarke Verse von George Grosz und Wladirmir Majakowski, durch Zwischenrufe wie aus einer Demonstration, durch einen Text des Alten Testaments. Beteiligt sind ein großer Chor, ein kleiner Chor, ein Sprecher, Schlagzeug und Orgel. Die Messe mit Gegenfragen stützt sich hauptsächlich auf die Ausdruckskraft und -vielfalt der menschlichen Stimme in ihren verschiedenen Konstellationen von der Vereinzelung über die vielstimmige Gemeinsamkeit und die gemeinsame Vielstimmigkeit bis zur Kollektivität.
Der Komponist: Leon Schidlowsky, für mich einer der bemerkenswerten Gegenwartskünstler. Er stellt einen hohen Anspruch an die Moralität der Musik, deshalb eignen sich seine Werke nicht für zirkulierende Leihgaben bei Festivals. Sie sprechen einerseits zu konkret und andererseits zu deutlich von allgemeinen, Menschheit und Menschlichkeit betreffenden Fragen. Schidlowsky stammt aus Chile, lebt hauptsächlich in Israel, zur Zeit auch in Berlin. Seine "misa sine nomine" schrieb er 1975-77; er widmete sie Victor Jara, einem einst populären Sänger aus Chile. Den Mann traf man mit seiner Gitarre überall dort, wo es für die Armen und Entrechteten etwas zu erstreiten galt. 1973 wurde er ermordet durch die Junta des Herrn Pinochet, welche die gewählte Regierung durch einen Militärputsch stürzte. Er war einer von Tausenden, die im Tode ohne Namen blieben. Die Messe ohne Namen reagierte auf den Putsch, auf die grausamen politischen Verfolgungen und Morde, mit denen die Militärs ihre Schreckensherrschaft festigten.
Schidlowsky paßt sich nicht der populären Tonsprache Victor Jaras an. Er nimmt den ermordeten Sänger als Künstler ernst, indem er, Leon Schidlowsky, seine Gedanken in die ihnen einzig angemessenen Form komponiert. Das Werk ist nicht in der herkömmlichen Notenschrift aufgezeichnet, sondern in 11 Graphiken notiert. Das Schriftbild gibt den klanglichen Rahmen, die Folge und Intensität der Aktionen, die Tonlage, die zeitlichen und dynamischen Proportionen vor, überläßt aber viele Detailentscheidungen den Interpreten. Jede Aufführung fällt anders aus, jede aber ist als Realisation des besonderen Werkes erkennbar. Auf der musik-art-CD ist eine beispielhafte Aufführung festgehalten. Sie zeichnet sich durch Homogenität des chorischen Gesamtklangs einerseits, durch klare Profilierung hervortretender kleinerer Gruppen andererseits aus. Kooperation und Übergänge zwischen Stimmen und Instrumenten überzeugen ebenso wie zeitlichen Dimensionen, in denen die musikalische Dramaturgie Gestalt annimmt. Souverän führt Ingo Schulz die klangliche Regie des Werkes, das er selbst ein Stück "Musiktheater" nennt, bei dem "jede menschliche Entwicklung ihre künstlerische Rückwirkung in schöpferischer Darstellung hat." Die Leistung des von ihm geleiteten Ölbergchores erreicht professionelle Qualität durch gründliche Einstudierung, sorgfältige Probenarbeit und im besten Sinne ehrgeiziges Engagement.
Leon Schidlowskys "misa sine nomine" - der Plattentip für nachdenkende, problem- und kulturbewußte Zeitgenossen.
Habakuk Traber
2. Neue Zeitschrift für Musik 3/1999
Unzweifelhaft ist die Aufnahme ein verdienstvolles Unternehmen, macht sie doch mit der engagierten Musik von Leon Schidlowsky (*1931) oder besser: seinen klanglichen Vorstellungen bekannt, wie er sie in den elf Graphiken der zwischen 1975 und 1977 entstandenen "misa sine nomine" festhielt - eine Komposition, die politische Ereignisse Chiles in jenen Jahren reflektiert.
Schidlowsky macht mit seiner Notation die Interpretation selbst zu einem Bestandteil des Werks, halten doch seine skizzenhaften Verläufe nur bestimmte Klangzustände fest.
Offensichtlich fand er - wie dieser Konzertmitschnitt vom 12. September 1998 aus Berlin-Kreuzberg beweist - in Ingo Schulz und dem von ihm geleiteten großen Ensemble verständige Mittler, die der mit zwei Chören, Schlagwerk, Orgel und Sprecher besetzten Partitur das notwendige Leben einhauchten.
Von der erzielten Intensität bleibt auf der CD jedoch nur ein schaler Rest, zumal das räumliche und audiovisuelle Erleben (gleich auf welchem Medium) wohl kaum vermittelt werden kann. Mehr neuzeitlichen Glanz als inhaltsreichen Kommentar bietet das Booklet. Selbst die beigegebenen Graphiken (Pluspunkt!) dienten dem Graphiker als Versatzstücke.
Michael Kube